Meine Geschichte
Lesen Sie hier die Geschichten von Marie, Lisa, Evelin und Sandra.
- Lisa Wo - The Unbreakable
- Marie - Das Gesicht zur Sonne
- Sandra - Ein Leben in Blautönen
- Marcel - Früher war das Stoma mein Albtraum – jetzt gebe ich es nicht mehr her
Wenn auch Sie uns Ihre Geschichte erzählen wollen, kontaktieren Sie uns gerne. Wir freuen uns über Ihre Nachricht!
Lisa
Lisa Wo - The Unbreakable
Schlösse man die Augen und ließe sich blind in ihre Erzählung fallen, dächte man wohl, einer Frau weit jenseits der 40 zuzuhören. So viel Weisheit, so viel gelebtes Leben spricht aus ihren Worten. Wäre da nicht diese Stimme. Diese Mitte-Zwanzig-Tonlage und manchmal auch diese Mitte-Zwanzig-Wortwahl. Wenn so junge Menschen so viel Klugheit in sich tragen, ist das nicht unbedingt ein Hinweis auf Leichtigkeit.
Lisa sitzt da. Jung. Strahlend. Offen. Wach. Ihre ganze Power entlädt sich in ihrem rechten Bein, das fortwährend wippt, als wollte es sagen: „Hey, genau in diesem Moment könnte ich auch tanzen, rennen wie Flash oder das Gaspedal durchtreten, solange bis ich am Meer bin.“
Sie selbst also: in Bewegung, unterwegs. Eines Tages will sie ankommen, sagt sie. Aber wir wollen nicht vorgreifen. Ihre Geschichte ist bewegend. Aufrührend. Partiell empörend. Lehrreich. Inspirierend. Lisa schlagen die Dinge in der Regel auf den Magen. Das ist schon immer so. Lange denkt sie, ihre Übelkeit hätte eine harmlose Ursache. Ein Magen-Darm Infekt. Eine Unverträglichkeit, eine Überempfindlichkeit. Irgendetwas, das vorbeigeht. Irgendwas, das wieder gut wird. Bis irgendwann nichts mehr geht, sie nichts mehr bei sich behält, nur noch spuckt. Ihre Hausärztin hat eine Vorahnung und schickt sie zum Spezialisten.
„Morbus Crohn“, sagt der.
„Ah ja.“, denkt sie.
Was die Diagnose bedeutet, begreift Lisa zunächst nicht wirklich. Das war im Jahr 2011.
Stark sein wie Hulk
Lisa lebt weiter. Schnell und rastlos und suchend, wie sie eben ist. Sie illustriert Bücher und beginnt ihre Ausbildung zur Mediengestalterin in Hamburg, pendelt jedes Wochenende nach Hause. 150 Kilometer hin. Familie sehen. Freunde treffen. Tanztraining. Lernen. Gestalten. Ihre Social-Media-Kanäle befüttern. Feiern, wenn es möglich ist. 150 Kilometer zurück. Es geht ihr oft schlecht. Ihr Crohn ist launisch und unbarmherzig.
Ihr Arbeitgeber ist unbarmherziger. Er kennt die Diagnose, hat jedoch weder Verständnis noch Einsehen. Immer wieder fordert er Anwesenheit. Untersagt Arztbesuche. Übt Druck aus. Sie ihrerseits übt sich in Disziplin. Zeigt auch kein Einsehen mit sich. Denn sie weiß, wie wichtig die Ausbildung für ihre Zukunft ist. Mit einer unglaublichen, einer fast fatalen Leidensfähigkeit zieht sie Schule und Ausbildung durch.
Man merkt ihrer Stimme die Fassungslosigkeit von damals an, dieses Nichtglaubenkönnen angesichts der Chuzpe des Arbeitgebers. Ihre körperliche Verfassung, Ihre Jugend und der Druck, den sie auf sich selbst ausübt, dieses Unbedingtschaffenwollen machen jede Gegenwehr unmöglich.
Heute sagt sie, dass diese Zeit, in der ihr die Ausbildung und die Krankheit fast Übermenschliches abverlangten, letztendlich zu ihrem Stoma führten. Sie mobilisierte alle Reserven. Woher sie sie nahm, kann sie in der Rückschau nicht mehr sagen. Sie waren einfach da, diese Hulk Kräfte. Diese Größe. Dieser Mut, jede Herausforderung anzunehmen. Und dieser unbeugsame Wille das Beste daraus zu machen und ihr ureigenes Schicksal zu meistern. Und dieser Glaube an sich selbst. Alles wird gut.
Um welchen Preis hat sie sich durchgebissen? Sich gleichsam selbst aufgezehrt, bis kaum noch 40 kg von ihr übrig blieben? Vielleicht wäre es nicht so weit gekommen, hätte sie auf ihren Körper gehört, mutmaßt sie. Hätte sie den Mut gehabt, die Ausbildung lockerer zu nehmen. Hätte sie nicht diese Hulk Kräfte entwickelt. Aber dann wäre sie nicht die Lisa, die sie ist.
Dennoch rät sie allen Menschen, gesund oder nicht, achtsam mit sich umzugehen. Die Lisa von heute tut das. Sie passt auf sich auf.
Es ist an der Zeit, Zeichen zu setzen
Irgendwann verspürt Lisa das Bedürfnis, sich mitzuteilen und wählt dafür das wohl größtmögliche Forum. Das Internet. Am 4. November 2015 schreibt Lisa einen Post von solcher Intensität, dass man beim Lesen auch heute noch Gänsehaut bekommt.
„Wisst ihr, was das Schlimmste daran ist, krank zu sein? Dass man nach außen hin für andere vollkommen gesund aussieht, aber im inneren irgendwie zerreißt! Und ja, ich habe keine Lust mehr, mich hinter diesem Tabu-Thema in der Gesellschaft zu verstecken. Denn es gehört zu mir wie mein Grübchen oder meine Zahnlücke. Es ist mein Schicksal und ein Teil von mir: Morbus Crohn. Und auch wenn diese Krankheit mir gerade mein Leben komplett umkrempelt und ein langer Weg der Hoffnung und auch Angst vor mir steht, gebe ich nicht auf! Denn ich liebe mein Leben, so wie es ist. Auch mit Veränderungen. Schließlich hat es mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Verliere mein Lächeln nicht und halte mich an die Worte, die mich bewegen. An die Menschen die mir jedes Mal aufs Neue zeigen, wie sich wahre Liebe anfühlt und was Glück bedeutet. Meine Familie. Meine Freunde.“
Zwischen den Zeilen steht weiß auf weiß in leichtem Schriftschnitt, wie schlecht es Lisa eigentlich geht. Mittlerweile ängstigt sie das Essen. Denn jeder Millimeter, den die Nahrung in ihrem Körper passiert, verursacht unerträgliche Schmerzen. So unaushaltbar, dass sie schließlich selbst um den künstlichen Darmausgang bittet.
Wie fragil dieser Mut ist und wie sehr er der Verzweiflung geschuldet ist, teilt sie Ende August 2016.
„Manchmal zwingt dich dein Körper in die Knie zu gehen und du kannst nichts machen, außer zu versuchen, dagegen anzukämpfen. Aber auch die stärksten Krieger müssen sich irgendwann geschlagen geben. Morgen heißt es, der Wahrheit in die Augen zu blicken. Diverse Optionen und Entscheidungen zu treffen, die mein Leben verändern werden. Ich fühle mich vorbereitet, aber gleichzeitig so klein und stumm.“
Bei ihrem behandelnden Arzt muss sie keine Überzeugungsarbeit leisten. Alles geht jetzt sehr schnell.
Am 14. Oktober 2016 postet Lisa ein Bild auf Instagram. Darauf ein Bild ihres Torsos im T-Shirt. Sie lüftet es ein wenig, so dass man ihre Stomaversorgung sehen kann. Daneben schreibt sie: „Darf ich vorstellen; Willy, mein Lebensretter ❤ und ja, ich lüfte heute eins meiner treusten Geheimnisse aber es ist an der Zeit Zeichen zu setzen. Für andere. Für mich. Und obwohl ich stolz bin, ihn zu tragen habe ich so großen Respekt davor, was ihr dazu sagt. Wie andere darauf reagieren. Aber ich möchte Mut schenken, denn Schönheit kommt von innen. Solange du...du bleibst. Denn du bist schön so wie du bist und das kann kein Beutel, keine Narbe, keine Krankheit jemals ändern.“
Am gleichen Tag postet Lisa auf Facebook, dass sie ihre Design-Website www.unbreakableart.de ab sofort ihrem Lebensthema widmet: Morbus Crohn. Hier will sie eine Plattform schaffen, auf der „ich meine Gedanken kreisen lasse und anderen Betroffenen Mut sowie Lebensfreude schenken möchte.“
Fliegen wie Iron Man
Lebensfreude empfindet Lisa nicht trotz, sondern wegen ihres Stomas. Willy – ihn beim Namen zu nennen, macht das Stoma zu einem Vertrauten, ja Verbündeten – verändert alles. Zum Besseren. Lisa kann wieder am Leben teilnehmen. Wieder essen. Weniger Schmerzen. Mehr Planbarkeit. Und Kraft für Ihre kreativen Projekte. Die Posts auf Ihrer Seite tragen so unterschiedliche Titel wie „Think positive“ und „So it feels every damn day.“ Sie erklärt. Sich und ihr Stoma und ihre Krankheit. Zeigt sich lächelnd und tapfer. Zieht ihr Lächeln an, wann immer es möglich ist.
Die anderen Momente, die weniger fröhlichen, lebt Lisa auf Instagram aus. Ihr Account ist so vielfältig wie sie selbst. Laut und leise, schrill und still, avantgardistisch und etabliert, mal bunt, mal blanc sur noir, aber immer sie selbst, immer in Bewegung, offen, wach ... Sie zitiert Henri Cartier-Bresson:
„Fotografieren, das ist eine Art zu schreien, sich zu befreien (…) Es ist eine Art zu leben.“
Das Leben hat viele Seiten. „Ihr Crohn“, wie sie sagt, gehört zu ihr. An ihm ist sie gewachsen, hat sich selbst und ihre Kunst entwickelt, festgehalten, losgelassen, ist gefallen, aufgestanden, hat Hulk-Kräfte gesammelt und wie Iron Man fliegen gelernt.
Oft kam vor dem Flug ein Fall. Ihre Geschichte hat Lisas neue Perspektiven eröffnet, mal ganz von unten, mal als Top-Shot. Dazwischen nur manchmal Augenhöhe. Sie hat sich Ihren Körper neu erschlossen, ihm angenähert, vertraut gemacht. Sie hat ihre Grenzen ausgelotet, akzeptiert, um sie dann doch wieder weiter und weiter zu stecken. Sie hat sich ausprobiert und entdeckt, was ihr Kraft gibt und was ihr Kraft raubt. Sie hat gelernt, sich Raum und Zeit zu nehmen. Sich zu schützen. Sie hat gekämpft, gezweifelt, die Hoffnung hochgehalten, das Restlicht gebündelt, Feuer entfacht, Sinn seziert und ihr Leben palpiert. Bis sie all das für sich verpacken konnte.
Ihr Learning: Momente retten Leben – die sonnigen, glücklichen, innigen, luftleichten rotweißgestreiften Rettungsringmomente, an denen man sich festhalten kann, wenn die See rauer wird und die Wellen höher schlagen. Sie wartet nicht mehr auf diese Momente. Sie sucht sie.
Lisa geht auf Festivals. Sie macht Sport, taucht sogar, sie lebt sich aus in ihrer Kunst, schreibt und malt und fotografiert, arbeitet, geht auf Reisen. So, als wäre nichts. Sie sagt, sie kann alles, sie muss sich nur länger vorbereiten als andere.
„Manchmal sind es ganz einfache Dinge. Mit einer Tasse Tee in der Sonne auf dem Balkon sitzen und ganz bei sich selbst sein. Mit der Familie am großen Tisch sitzen und lachen. Oder gestern, als ich zu Euch gefahren bin durch die Kasseler Berge, auf und ab und hinter jeder Kurve eine neue Perspektive, die Sonne schien – das habe ich so sehr genossen. Es ist so schön, im Jetzt zu verweilen und den Moment zu genießen, der einem geschenkt wird!“
Wir genießen den Moment, ihr zuzuhören und zu staunen. Nicht nur über ihre Weisheit. Wir staunen über diese wirklich osmiumschweren Zeiten und die Leichtigkeit, mit der sie diese scheinbar pariert. Touché, liebes Leben. Sie lächelt. Sie wirkt so leicht, dass man denkt, sie braucht die Beine nicht, die schon wieder wippen, als wollten sie tanzen.
Aber jetzt wissen wir: Sie könnte auch fliegen.
Marie
Marie. Das Gesicht zur Sonne.
Es gibt Menschen, die haben eine so positive Ausstrahlung, dass es einem vorkommt, als würde man morgens die Jalousie hochziehen und die Sonne scheint warm herein, wenn sie zu sprechen beginnen. Marie ist so ein Mensch. Was sie in weniger als einem Jahr erlebt hat, würde den meisten Menschen den Boden unter den Füßen wegziehen. Sie hingegen lächelt dem Schicksal trotzig entgegen. Weil sie weiß, dass die Welt ein Spiegel ist. Wer verbittert, bekommt böse Blicke. Wer Lächeln sät, erntet ein freundliches Gesicht. Also strahlt sie. Auf dass ihre Wärme auf andere abstrahlt. Auch deshalb möchte sie hier ihre Geschichte erzählen. Marie kämpt gegen FAP und zeigt, wie sehr es sich lohnt, zuversichtlich zu sein.
Natürlich. Sie kennt diese tiefschwarzen Tage.
Zum Beispiel damals in New York. Geplant ist unbändiges Excitement. Es kommt pures Elend. Diarrhö und Depressionen statt Downtown Manhatten. Vom Big Apple sieht sie im Wesentlichen ihr Hotelzimmer. Sie reist vorzeitig ab.
Heute sagt sie, dieser Trip war der Beginn ihrer Reise. Marie geht auf Spurensuche. Sechs Jahre lang kann ihr niemand sagen, woran sie leidet.
Man findet sogar die Polypen in ihrem Darm, aber keine Ursache. 2018 – sie isst inzwischen fast nichts mehr– ist schließlich die Ursache für die jahrelang wiederkehrenden Durchfälle klar:
Familiäre Adenomatöse Polyposis (FAP)
Bei FAP wird primär der Dickdarm von unvorstellbar vielen Polypen befallen. Weil jeder dieser Polypen das Potenzial hat, zu entarten, ist die Entfernung des Dickdarms quasi alternativlos. Marie zögert nicht. Sie ist froh, endlich zu wissen, woran sie leidet. Auch dann noch, als ihr eine Ärztin sagt: „Marie, das wird ein steiniger Weg.“ Da weint sie. Zum ersten Mal wird ihr die Tragweite annähernd bewusst. Aber sie sieht auch das Licht am Horizont. Das ist dieser typische Marie-Mut:
Auf den Dickdarm kann sie verzichten. Auf die Wahrheit nicht.
Doch die Wahrheit wird ihr vorenthalten. Weil Ärzte diesen Mut nicht immer teilen. Die Patientin ist noch so jung. Nicht mal dreißig! Alles nicht so schlimm? Sicher ist das Zurück-schrecken vor dem schier Unaussprechlichen menschlich. Für Marie ist es fatal.
Als sie nach der OP aufwachte, ist sie von ihrem Dickdarm befreit. Aber sie trägt ein Ileostoma.
Aus medizinischer Sicht ist das keine Überraschung. Man hatte die Markierung sogar vor der Operation angezeichnet, aber Marie nicht wirklich darüber aufgeklärt. Das Stoma war lediglich eine dieser unendlichen, unwahrscheinlichen Eventualitäten, die im Beipackzettelmodus der obligatorischen OP-Belehrung Erwähnung finden müssen. Marie trifft es hart und unvorbereitet. Die Tage nach der OP zählen entsprechend auch zu diesen tiefschwarzen Tagen.
Wachwerden ist keine Option.
Aber es ist ein Marie-Gesetz: Auf die Mitte der Nacht folgt die Dämmerung. In ihrem Fall hat die Morgensonne das Gesicht ihrer drei Geschwister.
„Ohne meine Geschwister wäre ich niemals da, wo ich heute bin!“, sagt sie.
Zwei Schwestern und ein Bruder tragen Marie durch diese schwere Zeit. Sie bringen Licht, Kraft, Mut und Energie in ihr Wesen zurück. Sie nehmen ihr jede Gelegenheit, aufgeben zu wollen oder sich allein zu fühlen.
Stattdessen geben sie Marie bedingungslose Zuneigung, Verständnis und Zeit, sich mit der Situation zu arrangieren. Das tun sie bis heute.
„Man braucht das so sehr. Diese Liebe, für die man nichts tun muss. Von Menschen, denen man total vertraut.“
Maries Schwester baut ihr eine Brücke: Zwölf Wochen zwischen OP und Rückverlagerung. Der Ablauf des Zeitfensters wird per Strichliste dokumentiert. Es hilft. Marie gewinnt ihren Mut zurück und verliert schließlich tatsächlich das Stoma.
Heute hat Marie einen Ileoanalen Pouch. Und sie ist dafür sehr dankbar.
Dafür und für ihre Stoma-Therapeutin. Auch so eine 1000-Watt-Lichtquelle in ihrem Leben:
„Ich hatte schon im Krankenhaus eine gute Stoma-Schwester, die mich aufgebaut hat. Und mir die Scheu vor dem Stoma nahm. Mit Barbara hier zu Hause hatte ich auch so viel Glück. Sie war immer erreichbar. Mit ihr kann ich über alles reden. Es tut so gut, keine Scheu zu haben, keine Peinlichkeiten zu empfinden. Schließlich geht es um einen ganz intimen Bereich: Deinen eigenen Körper. Und der war mir selber erst einmal fremd.“
Mit dem Stoma hatten Marie und ihre Therapeutin es wirklich nicht leicht. Lange suchten sie nach einer passenden Versorgung, weil Maries Haut allergisch reagierte. Zu einigen Komplikationen kam, das Marie sich unwohl fühlte, Sie hatte Angst „auszulaufen“ und wollte kaum das Haus verlassen.
Heute sagt Marie, dass es Quatsch war, sich wegen des Stomas einzuigeln. Aber man muss die eigenen Grenzen respektieren. Manchmal braucht man einfach für eine Zeit einen Kokon um sich herum, der Schutz und Raum gibt.
Schließlich war es die Schwester, die sie ermutigte, wieder loszuleben.
„Du musst Geduld haben!“
Auch mit dem Ileo-analen Pouch musste Marie erst einmal klarkommen. Ihre Stomatherapeutin stand ihr zur Seite.
Durch den Pouch gewinnen die Patienten ihre Kontinenz und so auch Lebensqualität zurück. Dazu wird aus Dünndarmschlingen ein künstliches Reservoir geschaffen, in dem der Darminhalt gesammelt wird. Die Entleerung erfolgt dann kontrolliert über den natürlichen Darmausgang.
Es folgt ein Lernprozess, an dessen Anfang 20 bis 30 Stuhlgänge pro Tag stehen. Sehr flüssig und sehr aggressiv. Meist dauert es etwa ein Jahr, bis sich Normalität einstellt. Aber es lohnt sich, das durchzustehen, sagt Stomatherapeutin Barbara.
„Dazu braucht man Geduld, Durchhaltevermögen, Zuversicht, Humor und sehr, sehr, sehr viel Creme!“, lacht Marie mit Augenzwinkern. All das hat sie.
Das Glück ist eine kalte Cola
Glück definiert sich heute anders für Marie. Vieles hat seine Wichtigkeit verloren. Und noch mehr hat an Bedeutung gewonnen.
„Wenn man die Krankheit nicht annimmt, verliert man sich. Ich bin an der Krankheit unheimlich gewachsen und gereift. Ich zeige mir selber immer, was ich heute schon kann, was vor zwei Wochen noch undenkbar gewesen wäre. Ich sehe die kleinen Schritte und die großen. Ich weiß alles zu schätzen! Dass ich wieder mit dem Joggen angefangen habe, dass ich hin und wieder ausgehen kann. Ich setze mir Ziele, die erreichbar sind. Zum Beispiel im Sommer eine eiskalte Cola zu trinken. Das ist ein Ziel. Und das ist auch Glück.“
Manche Menschen sind kein Verlust
Auch Menschen sieht sie heute mit anderen Augen. Sie weiß, dass es normal ist, wenn sich Wege trennen. Manchmal fast unbemerkt, manchmal schmerzlich. Sie weiß, auf wen sie sich verlassen kann. Wer zu ihr steht. Und sie weiß, dass bestimmte Menschen kein Verlust sind.
„Menschen betreten deinen Zug, bleiben eine Weile und steigen wieder aus. Nicht jeder kann mit meiner Krankheit umgehen. Trotzdem ist mir Offenheit wichtig. Nur, wer weiß, was ich habe, kann mich verstehen. Wenn ich in letzter Minute Termine absage, zum Beispiel, weil es mir nicht gut geht. Ich will mich nicht in widersprüchlichen Geschichten verstricken. Das ist mir zu anstrengend.“
Da ist er wieder: dieser machtvolle Marie-Mut zur Wahrheit.
Im Beruf sieht sie, dass sich Offenheit auszahlt. Ihr Arbeitgeber gibt ihr die Möglichkeit, viel von Zuhause zu arbeiten. Weil sie wichtig ist für das Team und das Unternehmen. Und weil das Bewusstsein, wichtig zu sein, wichtig ist für sie. Sie will ein Stück Normalität. Sie will eine Aufgabe, wenn nötig arbeitet sie von zu Hause. Sie will sich nicht nur über ihre Diagnose FAP definieren.
Das Marie-Mehr
Marie ist mehr als FAP. Und Maries Leben ist mehr als FAP.
„Mein Ziel ist es, mich weiterhin nicht von der Krankheit beeindrucken zu lassen. Sie bestimmt nicht mein Leben. Sie ist ein Teil davon. So wie meine Narben ein Teil von mir sind. Zeichen die von Herausforderungen erzählen, die ich bestanden habe. Ich nehme das an. Mein Wunsch ist es, die Nachwehen hinter mir zu lassen, ein normales Leben zu führen, soweit das möglich ist. Ich will ferne Länder bereisen und viele schöne Momente erleben. Die kalte Cola ist ein solcher Moment. Aber da ist noch so viel mehr.“
Ihre beiden Schwestern und ihr Bruder werden dabei immer eine besondere Rolle spielen. Sie sind gesund. Maries FAP ist neu mutiert.
„Ich bin so froh, dass es mich getroffen hat. Sonst wären wahrscheinlich auch meine Nichten und Neffen betroffen. Früher habe ich mich manchmal gefragt: „Warum ICH?“ Heute weiß ich: Weil ICH stark genug bin, damit zu leben!“
Und Marie ist stark genug. Sie schafft das. Mit ihrer Familie. Mit guter medizinischer Betreuung, die sie inzwischen gefunden hat. Mit ihrem Marie-Mut. Und vor allem mit ihrem sonnenlichtwarmen Spiegelwesen – pure Energie. Marie.
Info:
Die Familiäre adenomatöse Polyposis (FAP) ist eine eher seltene Erkrankung. Sie tritt mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:10.000 in Deutschland auf. FAP wird vererbt. Verantwortlich ist das APC-Gen, das bei FAP Patienten mutiert ist. Die Diagnose erfolgt entsprechend durch humangenetische Untersuchungen.
Adressen zur humangenetischen und zur medizinischen Beratung findet man auf den Seiten des Selbsthilfevereins.
Sandra
Sandra. Ein Leben in Blautönen.
Sandra hat Morbus Crohn, ein Stoma und Engel, die sie beflügeln, wenn das Leben schwerer wird. Natürliche Selbstgewissheit. Leichter Plauderton. Eine Seele, so weit geöffnet, wie die Fenster am frühen Morgen eines Hochsommertages – auch, vielleicht gerade, wenn sie von ihrem Stoma und ihrer Erkrankung Morbus Crohn erzählt.
Und dennoch: da ist keine Angriffsfläche, keine exhibitionistische Nabelschau. Sandra ist eine Frau, die gelernt hat, dass der Himmel über ihr viele Farben hat. Aquamarin, Pastellblau, Heidelbeer, Indigo, …Für die sturmwolken- und nachtblauen Momente hat der Himmel ihr Engel geschickt, die mit ihr durch den Regen gehen, wenn er seine Schleusen öffnet. Und sie war klug genug, sie zu erkennen. Seit Sandra 16 Jahre alt ist, leidet sie an der entzündlichen Darmerkrankung Morbus Crohn. In zahlreichen Operationen hat sie dem Schicksal ihr Leben abgetrotzt. Ihr Stoma, sagt sie, hat ihr ihre Freiheit zurückgegeben.
Jeansblau. Morbus Crohn oder das Ende der Kindheit.
Mittelsachsen. Eine Kreisstadt mit 24.000 Einwohnern. Das Leben ist Klassenzimmer und Küssen und Kino. Letztes Jahr in der Realschule. Alles leicht. Alles klar. Abschluss. Ausbildung. Verkäuferin werden. Wie Mama. Freunde. Feiern. Sich verlieben. Flügge werden. Und frei…
Die wesentlichen Dinge, die das Leben so auf die Agenda stellt für sechzehnjährige Mädchen. Sonnenzeit pur. Die aufziehenden Wolken sind kaum erkennbar. Sie scheinen sich mit Cola und Salzstangen einfach wegpusten zu lassen. Sandra fühlt sich müde, hat Bauchweh, Durchfälle und verliert Gewicht. Schließlich wird klar, dass mehr dahintersteckt. Die Diagnose Morbus Crohn trifft die Familie und verändert das Leben des Teenagers.
Fast zwei Jahre bleibt alles relativ ruhig. Dann bekommt sie eine Arthralgie mit nachtblauen Flecken an den Beinen, die bei Berührung schmerzen. Ihre Medikamente werden umgestellt. Schließlich ist eine erste OP notwendig. Ein Abszess am Steißbein muss geöffnet werden.
„Ich war zwar inzwischen 17 Jahre alt und kein kleines Kind mehr. Aber ins Krankenhaus zu müssen, empfand ich damals als wirklich schlimm. Und wenn ich ehrlich bin, ist es das auch heute noch irgendwie.“
Sie beißt sich durch und schafft es trotz der Morbus-Crohn-Schübe, ihre Teenager-Agenda abzuarbeiten. Sie absolviert ihren Realschulabschluss und macht den Führerschein. Sie schließt erfolgreich eine Lehre als Bürokauffrau ab und bezieht ihre erste eigene Wohnung. Sandra ist eine junge Frau wie viele andere. Flügge. Frei. Fröhlich. Mit Morbus Crohn.
Tiefseesalzwasserblau. Überleben – Mit Stoma und Sascha.
Anfang 2009 überschlagen sich die Ereignisse. „Jetzt schlug das Schicksal richtig zu“, sagt Sandra heute über diese tiefseesalzwasserblaue Zeit. Abszess am Darm. Sepsis. Leberversagen. Bauchfellentzündung. Lungenembolie. Es ist der 19. Februar. Sandra ist 24 Jahre alt, als das Ärzteteam der Leipziger Klinik ihre Eltern mit den monströsen Fakten konfrontiert: „Mit diesen Werten müssen wir heute noch eine Not-OP einleiten. Die Überlebenschance Ihrer Tochter sehen wir bei 5 %." Von diesem Satz wird Sandra erst Monate später erfahren. Wider aller Wahrscheinlichkeitsrechnung erwacht sie gegen 2.00 Uhr nachts auf der Intensivstation – mit einem künstlichen Darmausgang, vier Drainagen, die aus Ihrem Bauch kommen und schrecklicher Angst.
„Um mich herum lärmten gefühlt hundert Geräte – auch von anderen Patienten. Ein langer Piepton am Bett einer Frau löste Hektik aus. Leider vergebens. Ich bekam immer mehr Panik und verlangte, meine Eltern anzurufen. Als ich mich endlich durchgesetzt hatte, war es 6.00 Uhr morgens. Mein Vater ging ans Telefon. Unter Tränen sagte ich, dass ich nach Hause will und er mich holen soll. Ich glaube, er war erleichtert meine Stimme zu hören. Aber meine Angst schmerzte ihn. Er weinte und schluckte. Dann gab er den Hörer meiner Mutter …“
Sie kämpft sich zurück ins Leben. An dem Triangel ihres Bettes hängt ein kleiner Engel, den ihr eine Freundin geschenkt hat. Er macht ihr Mut.
Wenige Monate später – noch immer inmitten des tiefsten Marianengrabenblaus – tritt noch ein Engel in ihr Leben. Sascha. Sie lernen sich auf einem Weinfest kennen. Sascha ist verliebt. Sandra ist skeptisch. Eigentlich denkt sie, sie braucht keinen Freund. Doch er bleibt hartnäckig. Das Stoma ist für ihn nur eine ihrer vielen Besonderheiten. Er liebt sie nicht nur. Er begehrt sie. So wie sie ist.
Und diese Liebe trägt auch durch die Untiefen des Marianengrabens. Als sich Sandra im Mai 2013 einer elfstündigen OP unterziehen muss, blickt sie bereits auf etwa 30 OP-Narkosen zurück. Der Eingriff ist riesig:
- Entfernt werden der Übergang vom Dünndarm zum Dickdarm, der Mastdarm und der Enddarm.
- Das Dünndarmstoma wird rückverlegt.
- Ein Dickdarmstoma wird neu angelegt.
- Eine Netzplombe wird eingelegt, um die große Wundhöhle im Becken aufzufüllen.
Nach 39 Tagen Krankenhaus klart der Himmel auf.
Strumpfbandblau verwoben mit Schleierwolken. Heiraten mit Stoma.
Sandra ist noch keine dreißig Jahre alt als Ihre Mutti stirbt. Und mit diesem schmerzlichen Verlust wächst ihr Wunsch, selber eine Familie zu gründen. Eigentlich verkörpert Sandra Weiblichkeit in der eher kecken Variante: Sneakers. Zungen-Piercing. Tattoos. Gelnägel-Glamour. Goldgrüne strahlende Augen, die wach, neugierig und selbstbewusst ins Leben schauen. Jetzt allerdings sehnt sie sich nach Romantik – sinnlich, sentimental, mädchenhaft.
Sie träumt einen Traum in Weiß, in Taft und in Tüll. In diesem Traum wird sie mit ihrer Geschichte das Millionenpublikum des TV-Senders Vox zu Tränen rühren. Das perfekte Hochzeitskleid für ihre Figur und ihr Stoma lässt sie sich vom Dresdner Uwe Hermann vor der Kamera von „Zwischen Tüll und Tränen“ schneidern. Er wird später auf seiner Facebook-Seite schreiben:
„Die Brautberatung mit Sandra und Ihren Mädels war für mich eine völlig neue Erfahrung. Es hat mir gezeigt, dass die Dinge nicht immer so sind, wie sie scheinen. Wenn man Sandra so sieht, sieht man nicht den Leidensweg und die Krankheit, sondern eine lebenslustige Frau, man sieht Freundschaft und wie wichtig Optimismus und Gemeinschaft sind. “
Wie das Fernsehpublikum sind auch die Follower beeindruckt von ihr, ihrem offenen Umgang mit ihrem Stoma und ihrer Morbus-Crohn-Erkrankung, ihrer Geschichte, ihrer Liebe und auch von ihrer Schönheit als Braut. Sie selbst macht mit Ihrer TV-Präsenz allen Stoma-Trägerinnen, die auf Brautkleidsuche sind, Mut, ihre Träume zu leben.
„Ich spürte sofort, dass es mein Kleid ist. Im Spiegel sah ich eine wunderschöne Braut. Nicht eine Frau mit Beutel am Bauch. Ich habe gelächelt und geweint und alle wussten: das ist es!“
Baby-Blau. Mamasein. Dein Stoma kannst Du Fridulin nennen.
Was jetzt noch fehlt zum Glück? Ein Baby. Mit Stoma? Dass das prinzipiell geht, findet Sandra schnell heraus. Doch, bevor sie das Nachwuchs-Projekt startet, will sie sicher sein, dass sie ihre Erkrankung Morbus Crohn nicht zwangsläufig an ihre Kinder vererben wird. Ein Gentest gibt dem Paar grünes Licht.
Sascha und Sandra wissen, dass es bei ihrer Geschichte nicht ganz banal ist, schwanger zu werden. Sie besuchen eine Kinderwunschklinik und gleich der erste Versuch der künstlichen Befruchtung glückt. Die Schwangerschaft ist ein Traum – wie übrigens bei vielen Frauen mit Morbus Crohn. Kein Schub. Keine Beschwerden. Engmaschige Untersuchungen. Kaiserschnitt, ja. Komplikationen, nein. Komplikationen gibt es lediglich bei der Namensfindung. Fridulin ist Sandras Favorit. So soll sie das Stoma nennen, findet Sascha. Sein Sohn wird anders heißen.
Der Name Moritz ist eine Ableitung aus dem lateinischen Mauritius. Der Himmel der gleichnamigen britischen Kronkolonie ist bekanntlich azurblau und das Wasser aquamarinfarben. Von den ersten beiden Briefmarken des Inselstaates im indischen Ozean hat eine Variante besonderen Ruhm erlangt: die Blaue Mauritius.
Der kleine Moritz ist ähnlich besonders. Natürlich viel wertvoller und die ganz spezielle, unverwechselbare, innig herbeigeliebte Nuance eines Lebens in Blautönen.
Marcel
Marcel - Früher war das Stoma mein Albtraum – jetzt gebe ich es nicht mehr her!
Marcel Brunner ist wie ein Phönix aus der Asche: «Es geht mir körperlich und psychisch so gut wie schon lange nicht mehr, ich bin richtig glücklich.» Eine pure Frohnatur und Sportskanone? Weit gefehlt: Hinter dem ersten Eindruck des sympathischen Ostschweizers steckt eine unglaubliche Lebensgeschichte.
Diagnose Morbus Crohn, bereits als Kind mehrere Darmoperationen und drei Stoma-OPs, heftiges Mobbing in der Schule, eine kranke Mutter, die soziale Isolation und Suizidgedanken. Die Lebensfreude und das gesunde Aussehen stehen im Gegensatz dazu, dass Marcel krank ist, auf die Behinderten-Toilette muss und zur Risikogruppe gehört.
Der 34-Jährige engagiert sich aktiv für Stomaträger und ist überzeugt: «Durch meine eigenen Erfahrungen kann ich Mitmenschen helfen.» Über seine Social Media Kanäle will Marcel Betroffene wie auch gesunde Personen auf das Thema "Künstlicher Darmausgang" aufmerksam machen.
«Ich habe viel zu erzählen, das muss jetzt raus!»
Marcel wollte immer sein wie alle anderen und hat sich versteckt, damit man nicht merkt, wenn es ihm nicht gut geht. Seit zirka zwei Jahren postet Marcel regelmässig auf seinen Social Media-Kanälen und spricht offen über seine Erkrankung und das Thema «künstlicher Darmausgang». Die Resonanz ist überwältigend! «Ich hätte nie gedacht, dass ich so viele positive Reaktionen erhalte und dass es so viele Menschen mit denselben Problemen gibt.» Durch diese Erfahrung hat es sprichwörtlich Klick gemacht. Marcel erkannte: Je offener man ist, umso verständnisvoller ist das Gegenüber. «Niemand spricht gerne über Ausscheidungen, dabei ist es etwas ganz Natürliches.» Gleichzeitig geht es Marcel darum, das Tabuthema zu brechen. «Immer wieder fragen mich Follower, was das für ein "Ding" sei. Mit meiner Arbeit möchte ich die gesunde Bevölkerung über das Stoma aufklären und das Interesse von Unwissenden wecken.» Seine Offenheit hat ihn auch selber verändert.
„Das positive Denken hatte ich immer, doch jetzt bin ich viel selbstbewusster. Mein Stomabeutel gibt mir neue Lebensqualität. Endlich fühle ich mich wieder fit und kann aktiv am Leben teilnehmen, das Stoma hindert mich an nichts. “
Endlich leben …
Vor seiner Operation war Marcel meistens krank und energielos. Jetzt spielt Sport eine große Rolle: Fitness, Unihockey, Wandern oder Schwimmen. «Ich fühle mich endlich wie ein normaler Mensch!». Mit einem Stoma sei alles möglich, einfach mit mehr Vorsicht, zum Beispiel mit einem Bauchgurt. «Das Stoma gibt mir die lang ersehnte Freiheit zurück. Ich kann mit Freunden ausgehen, ins Kino, essen gehen, reisen … und unterwegs kann man es problemlos leeren.»
«Etwas vom Wichtigsten ist, Hilfe anzunehmen.»
Marcel schmunzelt: «Meine Stomatherapeutin sagt heute noch, ich sei als Kind richtig schlimm gewesen.» Zuerst habe er sich sozial komplett zurückgezogen und gegen das Stoma gekämpft. «Wenn man am Verlust festhält, macht es dich kaputt. Man muss versuchen, die Situation zu akzeptieren, sonst ist das Stoma immer dein Feind. Es heilt nicht richtig oder ist vielleicht nicht dicht, weil man sich nicht so genau darum kümmert oder ein unpassendes Produkt verwendet.» Klar, am Anfang sei es eine starke Umstellung. Plötzlich trägt man einen Beutel am Bauch, an dem Fäkalien rauskommen! Und vielleicht gibt’s auch mal eine Sauerei, weil man den Umgang noch nicht gewohnt ist. Aber all das lege sich mit der Zeit. Und glücklicherweise können Fachpersonen und andere Betroffene helfen – und die Produkte sind heute auch viel besser als vor 20 Jahren.
A propos Produkte …
In seiner Jugendzeit testete Marcel verschiedene Beutel. «Jeder neue Versuch ist ein Risiko, also habe ich lange überlegt, ob ich tatsächlich den Anbieter wechsle.» Die Produkte von B. Braun haben Marcel überzeugt. Heute nutzt er den Ileostomiebeutel Softima® konvex. «Vorher war ich zufrieden, jetzt bin ich richtig happy! Im Gegensatz zu anderen Produkten löst sich der Beutel nicht von der Platte ab und hält so gut, dass ich ihn bis zu drei Tage lang nutzen kann.» Weitere Vorteile sind für Marcel der angenehme Tragekomfort, die gute Hautverträglichkeit und die Farbe. Den Beutel Softima® Active empfiehlt Marcel insbesondere für sportliche Aktivitäten, weil die Platte sehr dünn ist.
„So etwas habe ich vorher noch nie erlebt: Man hat nicht das Gefühl, einen Beutel zu tragen, er ist so geschmeidig und macht jede Bewegung mit.“
Der reizfreie Hautschutz Askina® Barrier Film sei angenehm anzufassen und schütze die Haut, zudem klebe und trockne er besser als die vorher getesteten Produkte. «Früher war der Beutel nach einem Tag locker und den zweiten Tag habe ich nur mit einem ganz unguten Gefühl überstanden. Mit den Produkten von B. Braun habe ich viel Sicherheit gewonnen. Auch die Betreuung und Beratung ist einfach top, ich fühle mich sehr gut aufgehoben und ernst genommen», schwärmt Marcel. Weitere Informationen liefert zudem der Ileostomie Ratgeber.
Von der Stomakappe Be 1® ist Marcel begeistert: «Das ist eine richtig coole Idee! Könnte ich Be 1® nutzen, würde ich das sofort tun. Der Deckel ist so klein und unauffällig, damit würde ich auch ohne Gürtel schwimmen gehen.» Marcel wünscht sich mehr Innovationsgeist: neue Lösungen anstelle des Beutels – oder falls Beutel, dann vielleicht farbige Hüllen mit Graffiti-Motiven für junge Leute? «Wenn das Stoma zum trendigen Accessoire wird, würde man auch dazu stehen.»
Mit seinem Engagement bei der young ilco Zürich will Marcel anderen Betroffenen beim Umgang mit ihrem Stoma helfen.
Du bist nicht allein
Was denken andere? Bin ich noch attraktiv? «Als Jugendlicher habe ich mich nicht getraut, darüber zu sprechen, geschweige denn einem Mädchen näher zu kommen. Ein Beutel voll Scheisse ist ja nicht sehr erotisch.» Seine erste Freundin hatte Marcel mit 24 Jahren. Es dauerte lange, bis er mit ihr über das Stoma sprach. «Wenn es dich ekelt, dann begreife ich es. Doch es ist nicht ansteckend, stinkt nicht und ist keine Einschränkung. Ihre Reaktion? Total easy!»
Marcel hat es auch geholfen, mit anderen Betroffenen über den Umgang mit dem Stoma und über Themen wie Sexualität, Partnerschaft oder Reisen zu sprechen. «Seit 2020 engagiere ich mich selber als Leiter der young ilco Zürich. Ich will so Ängste abbauen, mein Wissen weitergeben und Lebensfreude wecken, denn mit einem Stoma steht einem nichts im Wege.» Seine Lebensgeschichte habe ihn charakterlich positiv verändert. «Anderen zu helfen ist doch viel mehr Wert als ein schönes Haus und ein teures Auto. Aus meinen Begegnungen haben sich sogar Freundschaften entwickelt.»
Die Ursache für Marcel's Leidensweg: Morbus Crohn. Bauchschmerzen gehörten in seiner Kindheit zur Tagesordnung.
Ein Rückblick in dunkle Kapitel
Die Leidensgeschichte von Marcel begann mit sieben Jahren: Blut im Stuhl. Die Symptome wurden mit Kortison behandelt, doch die Ursache blieb. Morbus Crohn zerstörte «munter» weiter. Marcel erinnert sich: «Ich saß oftmals die ganze Nacht auf der Toilette und hatte extreme Schmerzen.» Weitere Begleiterkrankungen machten sein Leben zur Hölle: Entzündungen der Speiseröhre und Gallengänge, Juckreiz, gelbe Augen, chronische Blasenentzündungen und Abszesse auf der Haut durch das geschwächte Immunsystem. Hinzu kam ein erhöhtes Risiko für Darmkrebs und Lebererkrankungen.
Mit 12 Jahren wurden Marcel der gesamte Dickdarm und die Hälfte seines Dünndarms entfernt. «Hätte ich damals mit meinem heutigen Wissen selber entscheiden können, hätte ich mich wahrscheinlich dagegen gewehrt.» Denn der Eingriff brachte viele neue Probleme mit sich: Mangelernährung, Durchfall, schmerzhafte Entzündungen der Speiseröhre und im Anus – und die Krankheit verlagerte sich auf die verbleibenden Stellen.
Untersuchungen im Krankenhaus gehören für Marcel zur Routine.
«Das Stoma war ein Riesen-Schiessdräck!»
Aufgrund weiterer Komplikationen, insbesondere Fisteln zwischen dem Darm und der Blase, wurde Marcel mit 12 Jahren ein erstes Stoma angelegt. Er konnte es nicht akzeptieren, hat sich einfach nur geschämt und wollte sich verstecken. «Ich wurde stark gemobbt, sogar verprügelt und hatte den Spitznamen "Säcklischiesser", das hat mich sehr geprägt.» Die Mitschüler schmiedeten Pläne; festhalten und T-Shirt hochziehen war nur einer der Streiche. Da das Material damals noch nicht so ausgereift war, lief das Stoma oft aus und Marcel geriet in peinliche Situationen. «Ich war verzweifelt und weinte viel», erzählt Marcel. «Deshalb habe ich die Ärzte angelogen und behauptet, die Fisteln seien plötzlich weg und man könnte das Stoma nun zurückverlegen.» Im Nachhinein sei das natürlich idiotisch gewesen, denn die Probleme haben sich dadurch nur verschlimmert. Der Durchfall wurde so extrem, dass Marcel sogar Windeln tragen musste – sein Selbstbewusstsein sank in den Keller. Er traute sich als Jugendlicher nicht, mit jemandem darüber zu sprechen. Alles, was er erzählte, wurde negativ gegen ihn verwendet und die Mobbing-Spirale drehte sich weiter …
In der Schule Schlägereien, zu Hause Reibereien
Früher war Marcels Mutter seine Bezugsperson. Als er beinahe ein Jahr lang in der Kinderklinik war und sein erstes Stoma bekam, war sie fast täglich bei ihm. Doch sie veränderte sich dramatisch. Chorea Huntington zerstörte nicht nur schleichend ihre Muskelfunktionen, sondern machte sie aggressiv und unberechenbar. Marcel war dem psychischen Stress alleine ausgeliefert, bis er mit 17 zu seinem Vater zog. Heute lebt seine Mutter in einem Pflegeheim, kann seit Jahren nicht mehr sprechen, essen oder trinken und ist im Rollstuhl. Wann immer er kann, besucht Marcel sie.
„Ich möchte ihr etwas zurückgeben, denn sie war als Kind immer mein Rückhalt.» Dass diese Erkrankung zu 50 Prozent vererbbar ist, belastet Marcel und seinen Bruder. «Ich möchte irgendwann eine Familie, habe aber immer im Hinterkopf, ich könnte das Gen weitervererben.“
Das Stoma hat ihn gerettet und hält ihn heute von nichts ab - auch nicht vom Sport.
Vom Feind zum Lebensretter
Im Alter von 20 Jahren dann der zweite Versuch: Das Stoma wurde erneut gelegt. «Mir ging es zuvor so schlecht, dass ich in der Klinik meistens auf der Toilette übernachtet habe.» Marcel begriff, dass die Stoma-Operation überlebenswichtig war.
„Durch das Stoma ging es mir deutlich besser – und das wirkte sich auf Körper, Psyche und Geist aus. Ich wurde rasch stärker und motivierter, ich bin einfach nur froh um mein Stoma und würde es nie mehr hergeben!“
Im Sog des schwarzen Lochs
Die neu gewonnene Lebensqualität wurde von dunklen Wolken überschattet. «Ich hatte keine Energie mehr, selbst das Duschen war anstrengend.» Marcel kapselte sich mehr und mehr von der Außenwelt ab und zog sich zu Hause in seine sichere Burg zurück. Austherapiert und am Ende seiner Kräfte konsumierte er Cannabis, um seine Schmerzen zu lindern. Anstelle von Verständnis für seine gesundheitliche Situation erntete er nur Misstrauen, wurde als Drögeler beschimpft und verlor seinen Führerausweis. «Alle dachten, ich sei ein schlechter Mensch! Ohne Auto konnte ich meine Mutter nicht mehr besuchen und fiel in ein tiefes Loch.» Seinem Umfeld war nicht bewusst, wie ernst die Situation war. Einzig der Gedanke, dass seine Mutter ohne ihn nicht klar kommt, hielt ihn vom letzten Schritt ab. «Ich hatte zum Glück die Kraft, mir selber Hilfe zu holen». Der damals 30-Jährige wandte sich an seine Vertrauensperson im Krankenhaus und erzählte ihr von seinen Selbstmordgedanken. Alarmstufe rot! Dank wöchentlichen Sitzungen bei einer Psychologin und medizinischer Behandlung überwand Marcel seine Depressionen. «Man darf sich auf keinen Fall dafür schämen! Früher habe ich auch gedacht, das sei doch eine Lebenseinstellung – doch die Erfahrung hat mir das Gegenteil bewiesen.»
Heute akzeptiert Marcel sein Stoma und hat dadurch seine Lebensfreude wieder zurückgewonnen.
Jetzt fängt das Leben erst richtig an!
Bald fängt Marcel an zu arbeiten, seine erste 50 Prozent-Anstellung. «Klar, ich habe etwas Angst, ob ich das schaffe oder ob mir die Gesundheit einen Strich durch die Rechnung macht, aber ich freue mich extrem und bin sehr motiviert. Die Anstellung zeigt mir, dass ich wieder einen Schritt weiter bin und die nötige Kraft und den Mut dazu gewonnen habe.» Sein Engagement für die ilco Schweiz und die Aufklärungsarbeit auf Social Media will er ebenfalls weiterführen.
„Mein Lebensweg hat mich zu meiner Lebensaufgabe geführt.“