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Systematische Analyse
Woher stammen die Rohstoffe eines Artikels? Was ist für seine Produktion notwendig? Wie wird er entsorgt? Bei B. Braun haben wir damit begonnen, den Lebenszyklus unserer Produkte zu analysieren.
In der nordhessischen Kleinstadt Bad Arolsen wird ein Produkt hergestellt, das täglich weltweit zum Einsatz kommt: die Omnifix®-F 1ml-Einwegspritze. Die Omnifix®-F 1ml ist jedoch nur eines von rund 700 Spritzenmodellen, die in Bad Arolsen hergestellt und dann in 140 Länder weltweit ausgeliefert werden. 1,8 Milliarden Artikel verlassen pro Jahr das Werk von ALMO, einer B. Braun-Tochter, die auf die Herstellung von Einmalspritzen spezialisiert ist. Eine Einmalspritze wiegt nur wenige Gramm. In der Masse werden in Bad Arolsen jährlich 9.000 Tonnen Kunststoffgranulat verarbeitet, aus dem die Einmalspritzen gefertigt werden. [1][2]
Nachhaltigkeit ist neben Innovation und Effizienz einer der Unternehmenswerte von B. Braun. Als Familienunternehmen mit Blick auf zukünftige Generationen bekennen wir uns global zu Energieeffizienz, Klima- und Ressourcenschutz. Um nachhaltige Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln, nutzen wir neue Technologien und orientieren uns an einheitlichen Standards. Unser Ziel: Bis 2030 wollen wir die Scope 1 und 2 CO2eq-Emissionen des Unternehmens um 50 Prozent im Vergleich zu 2021 reduzieren.
Um Optimierungspotenziale identifizieren zu können, müssen zunächst die genauen Emissionen bekannt sein. Und nicht nur das. Es muss darüber hinaus ermittelt werden, wo diese anfallen. Genau das ist die Aufgabe einer Produktlebenszyklus-Analyse (Life-Cycle-Assessment, LCA). Damit soll der Umwelteinfluss eines Produkts lückenlos erfasst werden – von der Bereitstellung der Rohstoffe bis hin zur Entsorgung.
Liesa Gläß ist Program Manager für das Sustainable Hospital Care Portfolio von B. Braun. Die gelernte Materialwissenschaftlerin erklärt die Idee hinter LCA: „Uns geht es darum, einen umfassenden Überblick über den potenziellen Einfluss. eines Produkts auf die Umwelt zu erhalten, um Optimierungspotenziale datenbasiert und systematisch aufzuzeigen. Es geht nicht nur um den Ausstoß an CO2-Äquivalenten, sondern um alle Auswirkungen auf das Klima, Böden, Gewässer, Luft und die Gesundheit von Mensch und Tier.“ Dafür werden etwa zehn Cluster erhoben. Neben dem Treibhauspotenzial ist das beispielsweise das Ozonabbau-Potenzial, die photochemische Ozonbildung, das Versäuerungspotenzial, der Nährstoffeintrag oder die Humantoxizität. Etwa 50 Kategorien, jeweils erhoben in ihren eigenen Maßeinheiten, werden beim LCA erfasst.
“Uns geht es darum, einen umfassenden Überblick über den potenziellen Einfluss eines Produkts auf die Umwelt zu erhalten.”
Rein theoretisch ist das alles sehr übersichtlich, doch die Tücke steckt in den praktischen Details. Liesa Gläß erklärt: „Wir arbeiten daran, Daten über die Auswirkungen unserer Produkte zu sammeln. Die strukturierten und analysierten Daten geben Aufschluss darüber, wo die größten Ansatzpunkte für unsere Optimierungen liegen, und weisen den Weg für den Einsatz neuer Technologien.” Der Vorteil der Lebenszyklusanalyse ist, dass sie diverse Aspekte wie Materialeinsatz, Ressourcenverbrauch/-abfall und Recycling in einem gesamtheitlichen Wert wie CO2-Äquivalente bündelt.
Prof. Dr. Tobias Viere vom Institut für Industrial Ecology der Hochschule Pforzheim ist ein international renommierter Experte für das Thema LCA. Er erklärt den Sonderstatus der Medizintechnologie in dieser Hinsicht: „Das Thema LCA gibt es seit Jahrzehnten, aber es wurde in anderen Bereichen vorangetrieben, vor allem in denen, die umwelttechnisch als besonders problematisch betrachtet wurden, etwa im Chemie- oder Automobilsektor.“ Dass dies für den Gesundheitssektor lange Zeit nicht galt, hatte laut Viere vor allem zwei Gründe: „Zum einen ist diese Branche sehr stark reguliert. Verschiedene Vorschriften, etwa zu den Themen Sterilität oder Entsorgung infektiöser Abfälle, setzen die Grenzen für mögliche Veränderungen sehr eng. Zum anderen handelt es sich bei Waren aus dem Gesundheitssektor eben nicht um Konsumgüter. Es geht hier um die Gesundheit von Menschen, und in einer Abwägung hat das immer die höchste Priorität.“ Trotzdem finde auch im Gesundheitswesen ein Umdenken statt, so Viere. „Man merkt, dass man die hohen Standards halten, den Lebenszyklus aber dennoch nachhaltiger gestalten kann.“
“Bei Waren aus dem Gesundheitssektor handelt es eben nicht um normale Konsumgüter. Es geht hier um die Gesundheit von Menschen, und in einer Abwägung hat das immer die höchste Priorität.”
Die Daten bei B. Braun zu erheben ist unter anderem die Aufgabe von Björn Günther. Er ist Material Science Experte in der Vor-Entwicklung bei B. Braun und war dafür verantwortlich, LCAs als Pilotstudien zu einigen Produkten aus dem B. Braun-Portfolio zu erstellen – unter anderem zu zwei Omnifix®-Spritzen. Als er 2019 begann, die Daten zu erheben, konnte er sich nicht vorstellen, welche Aufgabe da auf ihn zukam. „Unser Ziel war es, den gesamten Lebenszyklus von der Bereitstellung der Rohstoffe bis zur Entsorgung abzubilden. Und das in allen Wirkungskategorien. Unterm Strich waren das pro Artikel etwa 300 Datenpunkte, die wir erheben mussten“, erklärt Günther. Am einfachsten war die Arbeit am Anfang des Lebenszyklus, bei den Lieferanten der Rohstoffe. Knapp 30 Kunststoffgranulate bezieht ALMO von mehreren Herstellern. Da die Kunststoffindustrie aufgrund der Anforderungen des Marktes schon eine gewisse Erfahrung mit dem Thema LCA hat, konnte Günther die Daten in hoher Qualität beschaffen.
In dieser Kategorie werden alle Auswirkungen summiert, die den Klimawandel beeinflussen.
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Einige der Schritte im Produktzyklus können die photochemische Produktion von Ozon begünstigen.
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Die Versauerung von Wasser und Luft, je aufgeschlüsselt nach Stand im Projektzyklus.
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“Pro Artikel waren es um die 300 Datenpunkte, die erhoben werden mussten. Und für manche der Daten mussten wir ganz schön recherchieren.”
Dann jedoch wurde es komplex. Heiko Meuser, als EHS Manager (Environment, Health and Safety) bei ALMO zuständig für das Thema LCA, erklärt: „In der Werkshalle haben wir 55 Spritzgussmaschinen und 25 Linien für den Bereich Druck, Montage und Verpackung. Die einzelnen Verbräuche an Strom mussten wir mit Stromzählern ermitteln, die wir vor jedes Gerät schalteten.“ Immer wieder ging es darum, abzuwägen, welche Daten aufgenommen werden. Hier hilft die ISO 14044 mit ihren Kriterien. „Jede dieser Maschinen in der Halle ist unfassbar komplex, und eigentlich müsste man dann zu jedem Bauteil auch wieder eine LCA durchführen. Das führt natürlich in die Irre und ist letztlich aufgrund des enormen Durchlaufs auch irrelevant.“ Diese Ausnahmen mussten jedoch – gemäß den LCA-Richtlinien – definiert und dokumentiert werden.
An anderen Stellen wurde es hingegen richtig kompliziert, denn es durfte nur ein Prozent des Gesamtfußabdrucks unberücksichtigt bleiben. „Wir stellten fest, dass die Menge an Spiritus, mit dem die Maschinen gereinigt werden, nicht trivial ist“, erzählt Björn Günther. „Also haben wir das berücksichtigt und pro Artikel berechnet.“
“In der Werkshalle haben wir 55 Spritzgussmaschinen und 25 Linien für den Bereich Druck, Montage und Verpackung. Die einzelnen Verbräuche an Strom mussten wir mit Stromzählern ermitteln, die wir vor jedes Gerät schalteten.”
Noch komplexer gestaltete sich die Recherche der Daten, die den Einsatz der Spritzen und ihre Entsorgung betrafen. „Wir beliefern 140 Länder“, erklärt Günther. „Und in diesen Ländern gehen die Spritzen dann natürlich nicht nur an die großen Krankenhäuser in der Hauptstadt, sondern auch – teilweise in gemischten Transporten – an kleine Einrichtungen auf dem Land.“ Hier kann man nur mit Mittelwerten und Schätzungen arbeiten. Ähnliches betrifft die Entsorgung – eine der maßgeblichsten Kategorien für ein LCA.
„In Deutschland schreiben die strengen Richtlinien vor, dass alle kontaminierten Produkte nach dem Gebrauch der thermischen Verwertung zugeführt werden müssen“, erklärt Liesa Gläß. In anderen Ländern, etwa auf dem afrikanischen oder asiatischen Kontinent, kann man davon nicht immer ausgehen. Hier kann medizinischer Abfall unter Umständen auch auf Deponien entsorgt werden, was völlig andere Werte in den Wirkungskategorien ergibt.
Bei der hochkomplexen Berechnung dieser einzelnen Wirkungskategorien konnten sich Björn Günther und Heiko Meuser auf ein Werkzeug verlassen, das B. Braun erst seit kurzem zur Verfügung steht: eine LCA-Software des niederländischen Start-ups Ecochain. Die Zusammenarbeit ergab sich im Jahr 2022 anlässlich des B. Braun Accelerator-Progamms, bei dem junge Unternehmen ihre Expertise einbrachten. Björn Günther ist von der Software überzeugt: „Die Auswirkungen in den einzelnen Kategorien selbst auszurechnen, wäre ein Ding der Unmöglichkeit. Stattdessen geben wir in die Software unsere Datenpunkte ein, etwa die Mengen an Granulat oder die Länge und Art der Transporte – und dann werden die Effekte je nach Wirkungskategorie exakt berechnet.“
Mit der Ecochain-Software hatte auch Marius Menyhart, Projektmanager LCA bei Aesculap in Tuttlingen, zu tun. Seine Aufgabe war es, ein LCA zweier chirurgischer Scheren zu erstellen. Beide werden im B. Braun-Werk in Penang, Malaysia, hergestellt. Der Unterschied: Bei einer handelt es sich um ein Einmalprodukt, die andere ist wiederverwendbar. Wie auch Björn Günther und Heiko Meuser bei den Omnifix®-Einmalspritzen musste Marius Menyhart tief in die Produktion, die Nutzung und die Entsorgung der Scheren eintauchen. „Das ging so weit, dass wir einen Entsorger im Ruhrgebiet besuchten, um herauszufinden, wie genau mit den benutzten Scheren umgegangen wird“, erzählt Menyhart.
Am Ende seiner Recherchen stand ein Ergebnis, mit dem er schon vorher rechnen konnte: „Wie zu erwarten war, erwies sich die wiederverwendbare Schere als nachhaltiger als das Einmalprodukt“, erklärt er. „Nach wenigen Einsätzen lag sie von den Auswirkungen her in etwa gleichauf mit den Einwegscheren. Da es jedoch eine hohe Anzahl an Nutzungszyklen geben kann, ergibt sich hier ein wesentlich nachhaltigeres Gesamtbild.“ Allerdings erläutert er auch die einseitige Sicht dieses Ergebnisses: „Beide Scheren haben unterschiedliche Einsatzgebiete. Das wiederverwendbare Modell muss vor dem Einsatz gewaschen, desinfiziert und sterilisiert werden. In einem Erste-Hilfe-Koffer ist daher beispielsweise nur das Einmal-Modell denkbar.“
“Um genau herauszufinden, wie mit benutzten Scheren umgegangen wird, mussten wir auch schon mal zu einem Entsorger ins Ruhrgebiet fahren.”
Mit diesen ersten Berechnungen wurden nun genügend Erfahrungen gesammelt, um LCA B. Braun-weit auszurollen. „Der Sinn der Pilotphase war es zunächst einmal, zu sehen, wie aufwendig die Beschaffung der Daten ist. Es stellte sich heraus: Zum Teil ist das sehr aufwendig“, sagt Gläß. Trotzdem wird das von LCA zu LCA einfacher. Angesichts Tausender Artikel, die B. Braun im Angebot hat, muss man das Thema LCA jedoch als Langzeitprojekt betrachten. Signifikante Einblicke in die Lebenszyklen der Produkte im B. Braun-Portfolio und daraus resultierendes Optimierungspotenzial erwartet Liesa Gläß dennoch schon in den kommenden Jahren. „Wir machen diese ganzen LCAs nicht nur als Fingerübung“, betont sie. „Bei all dem haben wir immer klare Ziele vor Augen: Welche Energieoptimierungen in der Produktion bringen Verbesserung, welche nicht? Bringt eine recycelbare Verpackung wirklich kleinere CO2eq-Emissionen? Bringt der geringere Einsatz von Material genug Verbesserung, um andere Anforderungen dafür unberücksichtigt zu lassen? Welchen Anteil hat der Transport? Für all das benötigen wir Daten, Daten und nochmals Daten. Systematisch erhoben und strukturiert ausgewertet.“
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